Hamburg und der heilige Nikolaus

/ Impulse

Am vergangenen Wochenende, dem ersten Advent, war ich mit 40 Studierenden in Hamburg. Es war der Ausflug unseres Wohnheims Newmanhaus. Hamburg zeigte sich von seiner besten Seite: Freitag und Sonntag Sonnenschein nach einigen Wolken; Freitagabend und Samstag Schneefall und winterlich kalt. Weihnachtsmarkt-Romantik pur. Wunderbar beleuchtete Märkte und Stände. Und der Weihnachtsmann (ja, nicht der Nikolaus …) schwebte über dem Rathausmarkt und wandte sich live an die Besucher:innen: Hohohoooo

Hamburg – Hafen- und Hansestadt, edel und prächtig, gediegen, fein und hanseatisch vornehm-zurückhaltend. Hamburg – das ist aber auch St. Pauli. Und wir haben es gemerkt, denn freitags war Fußball-Stadt-Derby: HSV gegen St. Pauli (Gott sei Dank unentschieden …). Unglaublich viel Polizei und kaum eine Möglichkeit in die Bahnen zu kommen, die zum Stadion gingen.

Am Samstagmorgen waren wir dann in St. Pauli und an St. Pauli, an der Kirche, die dem, Stadtteil (einst vor den Toren) den Namen gab. Sieghard Wilm ist Pastor an St. Pauli und wir haben einen gemeinsamen Freund. Und so war er sofort bereit uns zu treffen und uns sein St. Pauli zu zeigen: Kiez-Führung aus besonderem Blickwinkel. Vor gut 20 Jahren, als er anfing, war die Gemeinde tot und man überlegte, sie aufzugeben. Heute ist sie eine lebendige Gemeinde, ein wichtiger Anlaufpunkt. St. Pauli in St. Pauli hat sich Achtung und Respekt erarbeitet. Um die Kirche herum kein Drogenverkauf mehr, sondern lebendiger Kirch-Garten für die Menschen, für Familien und Kinder. Im Haus neben der Kirche ein Wohn- und Lebensort für Jugendliche. Die Diakonie ist da. Und die Kirche offen und einladend.

Die heutige Kirche ersetzte Vorgänger nach Napoleons Zerstörung. Geld hatte man wenig, darum ist der Boden aus alten Schiffsplanken – bis heute. Er erinnert an die Vergangenheit, an das Herkommen, an bewegte Zeiten – damals, wie heute. Berührend. Und hinter der Kirche eine Bebauungslücke, ein Blick auf die Elbe. Das sollte geschlossen werden: Wohneigentum. Man wehrte sich mit den Anwohnern – erfolgreich. Und es wurde ein Freizeitbereich mit grünen Stahl-Palmen, von der Nachbarschaft gestaltet. Der mehrstöckige Wohnblock links hat nur eine Handvoll Bewohner – Investitionsobjekt bei Wohnraummangel (eine Schande). Nebendran die Hafenstraße, einst besetzt, heute legal und noch immer sehr links. Ein Verkehrskreisel erinnert an einen Menschen und seine Geschichte: Yaya Jabbi (26) aus Gambia: 1,65 Gr. Marihuana brachten ihn ins Gefängnis, wo er starb (2016) – Suizid hieß es, keiner glaubte das. Ungeklärt. Das Schicksal vieler, die nicht arbeiten dürfen und Geld brauchen. Nicht, dass Drogen OK wären, darum geht es nicht; sondern die Frage, warum Leute nicht legal arbeiten dürfen?

Sieghard führt uns durch die Hafenstraße, nicht mehr besetzt, und doch voller Botschaften. Ein großes Haus ist blau-grün gestrichen – hübsch-farbig mag man denken. Erst mit Abstand erkennt man das blaue Wort NEIN auf grünem Grund. Sag Nein – das ist die Botschaft, auch die Botschaft Jesu immer wieder. Kommunisten, Antifa, Linke, ein paar Grüne – das ist St. Pauli. Wie auch die Herbertstraße auf der Reeperbahn, wohin Sieghard uns führt. Sexarbeit und Kriminalität, Gewalt und Drogen – ein heißes Pflaster. Touristen-Attraktion auch. Die Sichtschutz-Wand vor der Herbertstraße, sie ist alt. Kaum jemand weiß, dass es die Nazis waren, die sie in den späten 1930er Jahren errichtet haben. Eigentlich sollte es keine Prostitution geben im ‚Reich‘; aber es war Krieg, es gab so viele Soldaten … dann sollte man es wenigstens nicht so sehen. Sieghard versucht mit Verbündeten hier einen Gedenk-Ort zu gestalten, der darauf hinweist und auf die Frauen und ihre Geschichte.

Hamburg im Winter. Warum ich das erzähle?
Diese Begegnung und diese Kiezführung haben berührt und bewegt – nicht nur mich; die Studierenden waren ganz gebannt und nachdenklich.

Ich schreibe diese Zeilen am Nikolaustag. Einer der bekanntesten Heiligen der Christen, besonders in der orthodoxen und orientalischen Tradition – und: Patron der Seefahrer. Kaum etwas Greifbares ist von ihm gesichert. Und doch verehren ihn Menschen seit gut 1700 Jahren. 2025 wird in der katholischen Kirche ein Heiliges Jahr sein: 1700 Jahre Konzil von Nizäa (325); Nikolaus soll dabei gewesen sein.

Auf Ikonen, die ich so liebe, schaut er oft erstaunlich grimmig drein: Άγιος Νικόλαος ο θαυματουργός – der heilige Nikolaus, der Wunderwirker. Er nimmt etwas wahr, eine Not, eine Einsatzmöglichkeit – und tut etwas, wirkt Wunderbares. Nicht unbedingt medienwirksam, vielleicht eher verborgen, anonym. Einfach so. Weil er es kann. Das Gute ist im Fokus. Die Menschen liegen ihm am Herzen, ihr Leben, ihre Lebensgrundlagen, ihre Perspektiven und ihr Miteinander. Darum gibt es heute Geschenke einfach so: Vor der Tür, auf dem Schreibtisch, im Strumpf oder Schuh, im Adventskalender. Süßes oder Feines, eine Kleinigkeit oder eine Umarmung. Wunder wirken. Ganz bestimmt.

In Hamburg hatte ich den Eindruck, dass Sieghard und seine Verbündeten Nikolaus-Menschen sind, Wunderwirker:innen. Er sprach davon, dass es in St. Pauli viel Wunderbares gebe und Wunder auch, aber eben auch Wunden. Die Kirche als Gemeinschaft der Hoffnungsmenschen sei hier wichtig. Doch sie müsse authentisch sein, einfach, demütig – aber beherzt.

Die Polizeistation Davidwache kennen viele auf der Reeperbahn. Oder aus dem Fernsehen (Großstadtrevier). Rechts dahinter aber ist eine kleine Kneipe. Nach dem Krieg war da Platz durch einen Bombeneinschlag. Und so wurde von Erna und Friedrich Thomsen eine Bretter-Bude eröffnet: Zum Silbersack. Solide Preise. Hinter der Mauerfassade noch immer die Bretter-Bude. Als die Besitzerin 2012 verstarb sollte alles verkauft und überbaut werden. Doch es gab Widerstand – auch zusammen mit Sieghard und seiner Gemeinde: Wir brauchen die kleine Kneipe in unserer Straße (Peter Alexander, 1976); sie ist ein Lebensort für uns – nicht für Touristen; hier begegnen wir uns, hier ist Gemeinschaft für die vielen, die sonst einsam sind. Man tat sich zusammen und die Freunde des Silbersack GmbH & Co. KG kauften es und ermöglichen bis heute das Weiterleben. Sankt Nikolaus hätte seine wahre Freude daran und wäre sicher mit eingestiegen …

Wie ein Besuch im Hamburg doch den Heiligen Nikolaus illustrieren kann …
Also: Mach’s wie Nikolaus. Wirke Wunder(bares). Tu etwas. Da, wo es geht. Einfach so. Oder aus Liebe. In der Nachfolge Jesu. Ganz einfach …

Ignatius Löckemann | Hochschulpfarrer