University Chaplaincy
Ein Stuhl bleibt frei!
von Christine Schardt
Ein Stuhl bleibt immer frei bei den Meetings einer bekannten Marketing Agentur. Ein Stuhl bleibt frei für potentielle Kund:innen. Durch diesen Trick des freien Platzes, der auch gegenüber Mitarbeiter:innen, verteidigt wird, ist die Kundin oder der Kunde immer mit im Raum. Ihre Anliegen haben ihren festen Platz in der Besprechung.
„Dieses Jahr ist alles anders!“ Ein oft gehörter Satz. An Gründonnerstag erinnern wir uns in besonderer Weise an das Letzte Abendmahl Jesu in der Gemeinschaft mit seinen Jünger:innen. Die Tische sind gedeckt, das Fest ist vorbereitet, das Semesterprogramm gestaltet, die Pläne sind geschmiedet, Treffen und Konferenzen vereinbart, Lehrveranstaltungen geplant, der Urlaub eingetragen und gebucht. Gemeinsam wollten wir uns erinnern, gemeinsam essen, uns versammeln und miteinander feiern. War es vielleicht auch manchmal eine lästige Pflicht? Jetzt erfahren wir umso mehr, was und vor allem wer uns fehlt. – Doch: Wie viele Stühle bleiben frei, wie viele Plätze unbesetzt?
Gerne schaue ich mir jetzt Bilder an und erinnere mich an die Einladungen des letzten Jahres, bei denen wir gemeinsam geredet, gelacht, gefeiert, manchmal auch uns gemeinsam aufgeregt oder getrauert haben. Danke allen, bei denen wir letztes Jahr zu Gast sein durften oder die uns besucht haben und unsere Gäste waren. Ihr fehlt!
Juden und Christen feiern in diesem Jahr wieder zur gleichen Zeit Pessach und Ostern, beginnend mit den Mahlfeiern, dem Pessachmahl und dem Abendmahl. An unseren gedeckten Tafeln bleiben nun die meisten Stühle frei. Das schmerzt. Wir spüren, wie sehr es uns fehlt, zusammenzukommen, in unseren Kirchen, mit unseren Familien, Freund:innen und Nachbar:innen zu Hause.
Ein Platz bleibt frei beim jüdischen Pessachfest. Ein Platz wird extra für den Propheten Elija bereitgehalten. Ganz konkret wird aufgefordert: „Heiße Elija willkommen. Gieße den vierten Becher Wein für den Propheten Elija ein und öffne Deine Haustür kurz, um ihn einzulassen. Singe den Lobpreis, zitiere Psalmen, segne den vierten Becher Wein und trinken ihn.“
Heute, am 9. April 2020, jährt sich der Todestag von Dietrich Bonhoeffer zum 75. Mal. Auch sein Platz blieb frei am gedeckten Tisch. Halten wir einmal inne und stellen uns bewusst die Frage: Wie viele Stühle bleiben frei an unserem Tisch? Wer würde eigentlich jetzt mit uns hier sitzen? Wen hätten wir noch gerne mit dabei? Bei wem würden wir heute am Tisch sitzen? Reservieren wir einen Platz für die Menschen, die uns jetzt fehlen, dann sind sie mit uns in einem Raum.
Gemeinsames Essen ist so viel mehr als bloße Nahrungsaufnahme. Es bedeutet gemeinsame Zeit verbringen, Entspannung, Erzählen, Teilen, nicht nur des Essens, sondern unseres Lebens, wirkliche Begegnung, in die alle hineingenommen werden, auch die, die wir kannten und die schon gestorben sind. Es ist eine Erfahrung miteinander, für die wir nur dankbar sein und gemeinsam das Leben loben und Lieder singen können, eine zeitlich begrenzte, besondere Zeit des Miteinanderseins. Am Ende stehen gute Wünsche füreinander und die Hoffnung, sich bald wiederzusehen. So wohnt nicht nur jedem neuen Anfang, wie Hermann Hesse es sagt, ein Zauber inne, sondern in jedem Moment gelingender Begegnung, auch ein Moment der Endlichkeit und der Sehnsucht. Und es bleibt, was am Ende einer jeden Begegnung und auch am Ende des Pessachmahles bleibt, nämlich wieder auseinander zu gehen, mit guten Wünschen für das nächste Jahr, mit Liedern, Geschichten, nicht ohne uns unserer gegenseitigen Zuneigung zu versichern und unsere gemeinsame Hoffnung zum Ausdruck bringen.
In einem seiner bekanntesten Texte schreibt Bonhoeffer: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was auch kommen mag, Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Möge Sie diese Hoffnung begleiten und seien Sie gut behütet und gesegnet. „Aufwiedersehen im nächsten Jahr in Jerusalem, so Gott will und wir leben!“ Oder um es mit einem irischen Segenswunsch zu sagen: „Und bis wir uns wiedersehen halte Gott Dich fest in seiner Hand.“